"Lindemann" kommt nicht mehr ins Atelier
Atelier Ulrich Barth
 "Offenes Atelier"


Wissen sie eigentlich wie ich Herrn Lindemann kennen gelernt habe?

Lindemann findet den Künstler Ulrich Barth

Lindemann kommt mit einem konkreten Anliegen ins Pfarrhaus der Bethlehemgemeinde und findet keinen Ansprechpartner. Er irrt in die oberste Etage des Treppenhauses, wo er Musik und Geräusche hört. Nach kurzem Klopfen öffnet sich die Tür, er steht vor dem Atelier von Ulrich Barth.
Die beiden stellen sich gegenseitig vor und kommen ins Gespräch.

Lindemann ist genervt, aber auch unsicher. Er hat nicht erreicht, was er wollte und weiß, dass er hier unter der Schräge des Daches verkehrt ist. Andererseits tut sich mit dem Aufspringen der metallenen Bodentür eine ihm unbekannte Welt auf, die er hier nicht vermutet hat. Er ist überrascht und wird neugierig, was ihn dazu verleitet, weiterhin an dem Gespräch teilzunehmen, zumal ihn sein Gegenüber gedanklich festzuhalten scheint.

Barth freut sich grundsätzlich auf Besuch und steht in vollgekleckster Schürze und mit einem Pinsel in der Hand in der Tür. Er will helfen und möchte herausbekommen, wen Lindemann im Haus sucht. Als er merkt, dass er mit seinen Ermittlungen nicht weiter kommt, behauptet er dann, dass weltoffene Menschen hier genau richtig sind.
Obwohl Lindemann den Namen des Künstlers gesagt bekommt, redet er ihn die ganze Zeit mit „Ulli Barth“ an, während Barth immer „Herr Lindemann“ sagt.

Barth entgeht nicht der neugierige Blick an seiner Statur vorbei in das Atelier. Lindemann wird aufgefordert einzutreten und ist sehr angetan, von den Räumlichkeiten, in denen er sich plötzlich befindet. Beiläufig fallen seine Blicke auf die herumstehenden Bilder und die sich auftürmende Farbe auf der Palette. Es gibt keinen Zweifel, dies ist ein Arbeitsplatz eines Künstlers. Lindemann stellt einige Fragen, kann zu dieser Malerei aber keinen Zugang finden. „Dies ist nicht mein Ding“ Seine Neugierde hat hier ein Ende. Trotzdem läßt er sich die Beweggründe dieser gegenstandslosen Malerei erklären, die er mit fast schon entsetztem Blick entgegennimmt.
Lindemann entgleitet die Glaubwürdigkeit dieses Unternehmens, dass er gerade besucht. Er zweifelt an, dass irgendjemand für so etwas Geld ausgibt und ist bereits dabei, sich mächtig zu amüsieren. Er läuft Gefahr, dass ihm Gebotene, als Sinnlos dar zu stellen.

Barth nimmt dies gelassen hin, weil er schon oft mit anderen Menschen ähnliche Erfahrungen gemacht hat und kann Lindemann mit einer Frage stoppen, bevor er beleidigend werden kann:
„Herr Lindemann, sind Sie schon mal im Sprengelmuseum, jenseits der Grenzen Lindens gewesen?“ Das Gespräch nimmt so heftige Formen an, dass im Schlagabtausch Äußerungen wie „schön gemalt“ und „gut gekleckst“ abgehandelt werden.
An dieser Stelle hält Lindemann voll dagegen. Er reagiert abweisend und will nur gegenständliche Kunst als wahres Können akzeptieren.

Als von Barth der Begriff „Entartete Kunst“ genannt wird, weicht Lindemann von seinem harten Kurs ab und gesteht ein, dass jede Kunstrichtung eine Berechtigung hat. „So hab ich das nicht gemeint“

Barth zieht einen vorgefertigten Malgrund hervor und fordert Lindemann spontan zu einem gemeinsamen Malerlebnis auf. Lindemann versucht seine Unsicherheit zu verbergen und nimmt abgelenkt von der beeindruckenden Größe der Leinwand, mehr oder weniger beiläufig einen Pinsel entgegen, der ihm in diesem Moment gereicht wird. Er beteuert mehrfach, dass er nicht malen könne, erkennt aber unter dem Einwirken von Barth an, dass er hier nichts verkehrt machen kann.
Schnell hat Lindemann seinen Missmut verloren und wirkt aktiv an der Gestaltung des Bildes mit. Beide versuchen abwechselnd den Pinsel zu führen und den anderen davon zu überzeugen, welcher Klecks jetzt gelungen ist und welcher verändert werden muss. So wird jede Veränderung sofort besprochen.
Hierbei bekommt Lindemann die Erkenntnis, dass es ansehnliche, interessante und unattraktive Kleckse gibt und eine Vielfalt von Möglichkeiten, einen Klecks aufzuwerten.

„Wir müssen alles zusammen, auf das ganze Format bezogen, bewerten, denn das gilt es zu gestalten, Herr Lindemann“, erweitert Barth die Anforderungen und schiebt einen dicken Pinsel, voll mit grüner Farbe von links oben auf die Mitte zu, macht dann aber vor Lindemanns kleineren roten Gebilden rechtzeitig halt. Lindemann reißt kurzfristig die Augen auf, kommt dann aber mit seiner Empörung klar und äußert, dass man sich gegen so etwas wehren sollte.

Barth hat damit gerechnet, dass Lindemann Angst um seine ureigenen Produkte hat und entschärft die Provokation mit den Worten: „Grün fordert Rot zum Kampf heraus! ..könnte doch der Titel sein?“
Aber Lindemann hat schon den Arm mit seinem roten Pinsel ausgestreckt und dicht unter dem Grün angesetzt. Er stammelt etwas von taktischer Kriegsführung und dann deutlicher: „Wir kreisen den Gegner erst einmal ein.“ und zieht den Pinsel am Grün entlang, um somit seine Chancen bei einem vorzeitig festgelegten Frontverlauf zu vergrößern.
Die Farben scheinen diese Taktik nicht zu kennen. Schneller als Lindemann sich das erträumen konnte, fallen die beiden Farben an unterschiedlichen Stellen der Berührung übereinander her und verlaufen ineinander. Lindemann begleitet dieses eigenmächtige Handeln der Farben mit einem kurzen Aufschrei:
„Scheiße, das habe ich nicht so gewollt!“ und fängt an hektisch mit seinem Pinsel über dem Gemalten herumzufuchteln, findet aber nicht den richtigen Ansatzpunkt, um hier entschärfend eingreifen zu können. Machtlos, aber immer noch mit den Augen bei den Geschehnissen, legt er den Pinsel aus der Hand und winkt ab. Beide starren auf das, was zurück bleibt. Verbrannte Erde oder ein neuer Farbton? In Anbetracht eines schmuddeligen Grautones sagt Lindemann: „Das habe ich versaut! – Ich war Amerika.“
Zeit heilt bekanntlich Wunden. „Wir sollten es erst einmal trocknen lassen und wenn wir uns sicher sind, dass es schlecht ist, können wir es übermalen.“ schlägt Barth vor und legt auch seinen Pinsel aus der Hand.

Lindemann schaut auf seine Armbanduhr und bekommt den nächsten Schreck, weil er nicht fassen kann, wie schnell die Zeit vergangen ist. Er verabschiedet sich mit den Worten, das nächste Mal ein besseres Amerika zu malen und bedankt sich natürlich für die erfolgreiche Zeit miteinander.
Ob es ein weiteres Aufeinandertreffen dieser beiden Figuren geben wird, ist eher unwahrscheinlich. Lindemann, ganz angetan von der freundlichen Lehrveranstaltung, und dem, was sich daraus entwickelte, hat sich selbst bestätigt, dass dies nicht sein Metier ist. Er wußte immer schon, dass er nie malen konnte oder jemals malen wird. Aber dass er Barth auf diese Art und Weise kennengelernt hat, war für ihn eindeutig der Höhepunkt dieses Tages.
Barth musste sich nach diesem Auftritt von Lindemann, den er selbst zunehmend forciert hatte, erst einmal setzen. Nach kurzem Überdenken, was da abgelaufen ist, kommt er zu dem Entschluß, dass dieser Herr Lindemann, obwohl er seine Meinung so vehement vertreten hat, offen war für alles und sich hervorragend hat mitreißen lassen. So etwas geht nicht mit Jedem. Er ist sich aber auch sicher, dass er so etwas nicht jeden Tag braucht, dass solche Leute einem eine Menge Kräfte entziehen können und er doch besser seine Bilder alleine malen sollte.


Ulrich Barth
Lindemann ist die Romanfigur von Hans-Jörg Henecke. Mit ihr offenbarte er seine Auseinandersetzungen in unserem Stadtteil. Mit einer liberalen Einstellung und einer Aufgeschlossenheit, in einem Alter, das nur die Hälfte an Jahren zählte, wie das seine. Als kleiner städtischer Beamter wurde seine Schlüsselfigur auf die Probleme des Normallindener angesetzt und Lindemann schlug sich gut in aller Offenheit in den Gesprächen mit Oma Kasten und Stokelfranz. Eigentlich wurde alles Ausbeutbare aus dem Stadtteil mit weltpolitischen Geschehen vermischt, verglichen und besprochen.

Mit Lindemann brachte Hans-Jörg Henecke Leben in die Diskussion seines Stadtteils und zwar in Form von Kurzgeschichten, die er gerne auch mal im Theater am Küchengarten vortrug. Wenn etwas los war in Linden, dann setzte er seine Romanfigur in trapp; eine neue Geschichte entstand und der Lindenspiegel hatte wieder in seiner monatlichen Ausgabe zu berichten. Alles lief lustig und unkompliziert ab und machte Henecke zu einem Literaten, der von Linden aus die Welt besprach.

"Wie, die bauen das Schloß in Herrenhausen wieder auf? Dann wollen wir Lindener unser Schloß auch wieder in den "Von Alten Garten" haben."

Nur zu der oben aufgeschriebenen Geschichte mit dem Künstler Ulrich Barth hatte Hans-Jörg Henecke keine Idee. Mit Malerei kannte er sich nicht aus und schon gar nicht ließ er sich etwas aufdrücken. Etwas verstört reagierte er bei der ersten Vorlage der obigen Geschichte. Ich hatte seine Figur benutzt. War jetzt die Freundschaft vorbei? Dann las er jedes Jahr diese und seine neusten Geschichten vor meinen Gästen bei mir im Atelier.

Hans-Jörg Henecke starb mit 71 Jahren am 30.Mai 2014, mitten während der nächtlichen Arbeit an seiner Kolumne für den Lindenspiegel.
So ist es bei Wikipedia festgehalten.